Das Mahnmal
In der südwestlichen Ecke des Jüdischen Friedhofs an der Magdalenenstraße befindet sich die Skulptur „Leidensweg“ des Bildhauers Joseph Krautwald.
Das 2,20 Meter hohe Gebilde aus Ibbenbürener Sandstein zeigt einen alten Mann und eine junge Frau in weiten Gewändern und jeweils mit einem eigenen, von der anderen Figur verschiedenen Ausdruck von Leid auf dem Gesicht: Während das starre Gesicht des alten Mannes vor allem Apathie und Erschöpfung ausdrückt, vermittelt die schmerzverzerrte Mine mit geöffnetem Mund und das Haareraufen der Frau Verzweiflung.[1]Nießing, Melanie. (2011), „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘ – Studien zu Leben und Werk des Steinbildhauers und Holzschnitzers Joseph Krautwald (1914-2003).“ PhD … Continue reading Ursprünglich allen Opfern des Krieges gewidmet verengte sich bedingt durch den Standort der Figurengruppe ihre Bedeutung im öffentlichen Diskurs auf die Opfer des Völkermordes an den Jüd:innen und insbesondere auf die ermordeten Angehörigen der Jüdischen Gemeinde Osnabrücks.[2]Ibid.; „Kunst im Öffentlichen Raum.“ Stadt Osnabrück, 2007, Accessed December 12, 2023, 152. https://erleben.osnabrueck.de/fileadmin/erleben/Dateien/Kunst-oeffentl-Raum.pdf.
Obwohl sich am Ende des Krieges nur noch fünf Jüd:innen in Osnabrück befanden, bestand die Jüdische Gemeinde im Oktober 1945 bereits wieder aus 45 Mitgliedern.[3]Obenhaus, Herbert, David Bankir and Daniel Fraenkel. Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, 1217. Infolgedessen wurde auch der Jüdische Friedhof weiterhin für Begräbnisse genutzt. Das Architekturbüro Kissing entwickelte 1948 Pläne für ein Denkmal, das an die ermordeten Angehörigen der Jüdischen Gemeinde erinnern sollte. Diese Pläne wurden nicht umgesetzt.[4]„Jüdischer Friedhof Magdalenenstraße Osnabrück.“ Denkmalatlas Niedersachsen, 2021, accessed December 11, 2023. https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/piresolver?id=43810520. Stattdessen kam es 1949 zu einer Ausschreibung für ein Friedhofsehrenmal, in der der Entwurf des zu diesem Zeitpunkt in Rheine lebenden Bildhauers Krautwald angenommen, der vor allem für seine sakrale Kunst bekannt geworden war.[5]Nießing, „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘“, 392-393; „Joseph Krautwald.“ Internationaler Karl-Leisner-Kreis e.V., 2009, Accessed December 11, 2023. … Continue readingDrei Jahre später, 1952, wurde die Figurengruppe an ihrem heutigen Platz auf dem Jüdischen Friedhof aufgestellt. Ob die Bezeichnung „Leidensweg“ vom Bildhauer selbst stammt oder seinem Werk nachträglich zugeordnet wurde, ist nicht nachweisbar.[6]Nießing, „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘“, 392-393.
The memorial
In the southwestern corner of the Jewish Cemetery on Magdalenenstraße stands the sculpture “The Path of Suffering” by the sculptor Joseph Krautwald.
The 2.2-meter-tall structure, made of sandstone from Ibbenbüren near Osnabrück, depicts an old man and a young woman in loose garments, each with a distinct expression of suffering on his or her face. While the stoic look of the old man conveys apathy and exhaustion, the pain-distorted features of the woman, with an open mouth and hands pulling at her hair, reflect desperation.[7]Nießing, Melanie. (2011), „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘ – Studien zu Leben und Werk des Steinbildhauers und Holzschnitzers Joseph Krautwald (1914-2003).“ PhD … Continue reading Although it was originally dedicated to all victims of war, the sculpture’s significance in public discourse has narrowed to the victims of the genocide committed against the Jewish people, particularly those from the Jewish community in Osnabrück, due to its location.[8]Ibid.; „Kunst im Öffentlichen Raum.“ Stadt Osnabrück, 2007, Accessed December 12, 2023, 152. https://erleben.osnabrueck.de/fileadmin/erleben/Dateien/Kunst-oeffentl-Raum.pdf.
Although only five Jews remained in Osnabrück at the end of the war, by October 1945, the Jewish community had already grown to 45 members.[9]Obenhaus, Herbert, David Bankir and Daniel Fraenkel. Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, 1217. Consequently, the Jewish Cemetery continued to be used for burials. In 1948, the architectural firm Kissing developed plans for a memorial to commemorate the murdered members of the local Jewish community. Those plans were never implemented.[10]„Jüdischer Friedhof Magdalenenstraße Osnabrück.“ Denkmalatlas Niedersachsen, 2021, accessed December 11, 2023. https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/piresolver?id=43810520. Instead, in 1949, there was a call for proposals for a cemetery memorial, and the design offered by sculptor Krautwald, who was living in Rheine, 40km away from Osnabrück, at the time and had gained recognition for his sacred art, was selected.[11]Nießing, „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘“, 392-393; „Joseph Krautwald.“ Internationaler Karl-Leisner-Kreis e.V., 2009, Accessed December 11, 2023. … Continue reading Three years later, in 1952, the sculptural group was installed in its current location in the Jewish Cemetery. Whether the designation “The Path of Suffering” came from the sculptor himself or was attributed to his work retrospectively is not verifiable.[12]Nießing, „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘“, 392-393.
Osnabrücker Jüd:innen im Holocaust
Der Leidensweg der Osnabrücker Jüdinnen und Juden begann nicht erst mit der Wahl Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Antisemitische Hetze hatte es auch vor der sogenannten „Machtergreifung“ gegeben.[13]Junk, Peter and Martina Sellmeyer. Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900-1945. Bramsche: Rasch Verlag, 1989, 33-45 and 59-61. Ab Januar 1933 war der Antisemitismus jedoch Teil der staatstragenden Ideologie des NS-Regimes und legitimierte die Entrechtung, Verfolgung, Deportation und schließlich Ermordung der Jüdinnen und Juden.
Dieser Prozess unterschied sich in Osnabrück nicht wesentlich vom Rest des Dritten Reiches: Bereits ab dem 31. März 1933 – nicht wie in weiten Teilen des Reiches ab dem 1. April – wurden in Osnabrück immer wieder jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien boykottiert.[14]Kühling, Karl. Die Juden in Osnabrück. Osnabrück: Wenner, 1983, 81; Sellmeyer, Martina. “‘Man hat immer Angst gehabt…‘ Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ In Topographie des … Continue reading Jüdische Schülerinnen und Schüler wurden durch Beleidigungen, antisemitische Lieder und Unterrichtsinhalte sowie angedrohte und tatsächliche körperliche Gewalt unter Druck gesetzt; alle zwölf jüdischen Schüler des Reformrealgymnasiums (heute Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium) verließen die Schule bis 1937.[15]Junk and Sellmeyer, Stationen, 56.; Sellmeyer, “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 271.
Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 sprachen Jüdinnen und Juden alle politischen Rechte ab und schloss sie durch Berufsverbote und Enteignungen zusätzlich aus der Gesellschaft aus.[16]„Vor 85 Jahren: Nürnberger Gesetze erlassen.“ Bundeszentrale für Politische Bildung, September 14, 2020, accessed December 11, 2023. … Continue reading Bereits am 6. Januar 1936 waren „Jüdische Beamte […] bei der Stadtverwaltung Osnabrück nicht vorhanden.“[17]Junk and Sellmeyer, Stationen, 65. Die während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verhafteten und in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen verschleppten Juden aus Osnabrück und dem Umland wurden erst nach drei Monaten – teilweise sogar noch später – wieder aus dieser „Schutzhaft“ entlassen.[18]Junk and Sellmeyer, Stationen, 108.
Die letzten jüdischen Geschäftsleute verloren durch die „Arisierung“ ihren Besitz.[19]Junk and Sellmeyer, Stationen, 128-148. 1939 wurden die jüdischen Osnabrücker:innen in „Judenhäuser“ – gewissermaßen Ghettos auf kleinstem Raum – zwangsumgesiedelt.[20]Junk and Sellmeyer, Stationen, 183; Kühling, Die Juden, 91.; Sellmeyer, “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 275. Ab September 1941 mussten auch in Osnabrück alle Jüdinnen und Juden einen gelben Davidstern – den „Judenstern“ – sichtbar an ihrer Kleidung tragen.[21]Kühling, Die Juden, 91. Eine lange Liste von Verboten schränkte ihre Mobilität und Lebensqualität weiter ein.[22]Junk and Sellmeyer, Stationen, 184-185; Kühling, Die Juden, 90; Sellmeyer “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 275-276. Am 13. Dezember 1941 begannen die Deportationen der verbliebenen Jüdinnen und Juden aus Osnabrück nach Osten.[23]Junk and Sellmeyer, Stationen, 188; Kühling, Die Juden, 91.
Osnabrück Jews in the Holocaust
The suffering of Osnabrück’s Jews did not begin with Hitler’s appointment as Chancellor on January 30, 1933: Antisemitic propaganda existed even before the so-called seizure of power.[24]Junk, Peter and Martina Sellmeyer. Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900-1945. Bramsche: Rasch Verlag, 1989, 33-45 and 59-61. However, from January 1933, antisemitism became an integral part of state ideology under the Nazi regime, legitimizing the disenfranchisement, persecution, deportation, and ultimately murder of Jews.
In Osnabrück, this process did not significantly differ from what took place in the rest of the Third Reich: Starting from March 31, 1933, earlier than in many parts of the Reich (where it began on April 1), Jewish medical practices, law firms, and other businesses in Osnabrück were repeatedly boycotted.[25]Kühling, Karl. Die Juden in Osnabrück. Osnabrück: Wenner, 1983, 81; Sellmeyer, Martina. “‘Man hat immer Angst gehabt…‘ Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ In Topographie des … Continue reading Jewish students faced insults, derogatory songs, and antisemitic curriculum content as well as threatened and actual physical violence. All 12 Jewish students at the Reformrealgymnasium (now the Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium) left the school by 1937.[26]Junk and Sellmeyer, Stationen, 56.; Sellmeyer, “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 271.
The Nuremberg Laws of September 15, 1935, stripped Jews of all political rights and further excluded them from society through professional bans and confiscations.[27]„Vor 85 Jahren: Nürnberger Gesetze erlassen.“ Bundeszentrale für Politische Bildung, September 14, 2020, accessed December 11, 2023. … Continue reading By January 6, 1936, “Jewish officials […] were not present in the Osnabrück city administration.”[28]Junk and Sellmeyer, Stationen, 65. Jews from Osnabrück and surrounding areas arrested during the Kristallnacht on November 9, 1938, and transported to the Buchenwald and Sachsenhausen concentration camps were only released from this “protective custody” after three months, some even longer.[29]Junk and Sellmeyer, Stationen, 108.
The last remaining Jewish business owners lost their property through “Aryanization.”[30]Junk and Sellmeyer, Stationen, 128-148. In 1939, Osnabrück’s Jews were forcibly relocated to “Jewish houses” (“Judenhäuser”) – essentially cramped ghettos.[31]Junk and Sellmeyer, Stationen, 183; Kühling, Die Juden, 91.; Sellmeyer, “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 275. From September 1941, all Jews in Osnabrück had to wear a yellow Star of David – the “Jewish star” – visibly on their clothing.[32]Kühling, Die Juden, 91. A long list of prohibitions further restricted their mobility and quality of life.[33]Junk and Sellmeyer, Stationen, 184-185; Kühling, Die Juden, 90; Sellmeyer “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 275-276. On December 13, 1941, deportations of the remaining Jews from Osnabrück to the East began.[34]Junk and Sellmeyer, Stationen, 188; Kühling, Die Juden, 91.
Informationen
Kunst im öffentlichen Raum Osnabrück: Denkmal „Leidensweg“, S. 150 – 157: https://erleben.osnabrueck.de/fileadmin/erleben/Dateien/Kunst-oeffentl-Raum.pdf
Informationen zum jüdischen Friedhof Magdalenstraße Osnabrück: https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/piresolver?id=43810520
Weitere Informationen zu jüdischem Leben in Deutschland: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/bpb_307_neu_13_optimiert_0.pdf
↑1, ↑7 | Nießing, Melanie. (2011), „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘ – Studien zu Leben und Werk des Steinbildhauers und Holzschnitzers Joseph Krautwald (1914-2003).“ PhD diss., University of Osnabrück, 2011, 86-87 and 392-393. |
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↑2, ↑8 | Ibid.; „Kunst im Öffentlichen Raum.“ Stadt Osnabrück, 2007, Accessed December 12, 2023, 152. https://erleben.osnabrueck.de/fileadmin/erleben/Dateien/Kunst-oeffentl-Raum.pdf. |
↑3, ↑9 | Obenhaus, Herbert, David Bankir and Daniel Fraenkel. Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, 1217. |
↑4, ↑10 | „Jüdischer Friedhof Magdalenenstraße Osnabrück.“ Denkmalatlas Niedersachsen, 2021, accessed December 11, 2023. https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/piresolver?id=43810520. |
↑5, ↑11 | Nießing, „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘“, 392-393; „Joseph Krautwald.“ Internationaler Karl-Leisner-Kreis e.V., 2009, Accessed December 11, 2023. https://www.karl-leisner.de/joseph-krautwald/ . |
↑6, ↑12 | Nießing, „‘Ich bin mein Leben lang vom Glück verfolgt!‘“, 392-393. |
↑13, ↑24 | Junk, Peter and Martina Sellmeyer. Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900-1945. Bramsche: Rasch Verlag, 1989, 33-45 and 59-61. |
↑14, ↑25 | Kühling, Karl. Die Juden in Osnabrück. Osnabrück: Wenner, 1983, 81; Sellmeyer, Martina. “‘Man hat immer Angst gehabt…‘ Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ In Topographie des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, edited by Thorsten Heese, 266-277. Bramsche: Rasch Verlag, 2015, S. 269. |
↑15, ↑26 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 56.; Sellmeyer, “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 271. |
↑16, ↑27 | „Vor 85 Jahren: Nürnberger Gesetze erlassen.“ Bundeszentrale für Politische Bildung, September 14, 2020, accessed December 11, 2023. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/501380/vor-85-jahren-nuernberger-gesetze-erlassen/. |
↑17, ↑28 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 65. |
↑18, ↑29 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 108. |
↑19, ↑30 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 128-148. |
↑20, ↑31 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 183; Kühling, Die Juden, 91.; Sellmeyer, “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 275. |
↑21, ↑32 | Kühling, Die Juden, 91. |
↑22, ↑33 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 184-185; Kühling, Die Juden, 90; Sellmeyer “’Man hat immer Angst gehabt…‘“, 275-276. |
↑23, ↑34 | Junk and Sellmeyer, Stationen, 188; Kühling, Die Juden, 91. |