Das Mahnmal
Unter der Adresse Gertrudenring 9 erinnert im Garten des AMEOS Klinikums Osnabrück ein Mahnmal an die psychisch kranken Opfer des NS-Regimes. Im April 1941 wurden aus der hier gelegenen, damals noch „Landes-Heil- und Pflegeanstalt“ genannten, Einrichtung 248 Patient:innen in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt.[1]Reiter, Raimond. “Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück.” Osnabrücker Mitteillungen 115 (2010), 159–170, 159; “Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück (AMEOS Klinikums Osnabrück),” Deutscher … Continue reading
Die Gedenkanlage besteht aus zwei Betonquadern, deren nach oben gewandte Seite mit Metallplatten bedeckt ist. Auf dem linken Quader thront eine ebenfalls metallene Gruppe von Figuren mit menschlichen Umrissen. Elf von ihnen stehen eng beieinander und bilden eine Einheit. Eine zwölfte Figur steht jedoch als Außenseiter:in etwas abseits und alleine. Die Metallplatte auf dem rechten Quader trägt die Inschrift: „Ich bin ausgegrenzt, stigmatisiert, zwangssterilisiert, ermordet und vergessen. Zum Gedenken an die psychisch kranken Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Osnabrück.“
Die Auseinandersetzung mit der Ermordung von geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen durch Täter:innen – insbesondere auch Ärzt:innen und Pfleger:innen – des NS-Regimes, setzte vergleichsweise spät ein. Erst in den 1980er Jahren begannen Initiativen wie der „Arbeitskreis Erforschung der NS ‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation“ oder der „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen.[2]“Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen,” NS-Euthanasie Anna 1915–1940, 2023, accessed November 30, 2023. https://www.euthanasie-gedenken.de/erinnerung.htm.
Die Idee für das Osnabrücker „Mahnmal für die psychisch-kranken Opfer des Nationalsozialismus“ entwickelte die Selbsthilfegruppe der Psychiatrie-Erfahrenen im Jahr 1999.[3]“Mahnmal,” Ameos Klinikum Osnabrück, accessed November 30, 2023. https://www.ameos.de/klinikum-osnabrueck/ueber-uns/mahnmal. Ein Expert:innengremium wählte den Entwurf des Osnabrücker Künstlers Werner Kavermann für die Umsetzung der Idee aus, da dieser in eindrucksvoller und authentischer Weise das angstvolle und zur Vereinzelung drängende Erleben des psychisch kranken Menschen einfange.[4]Ibid. Am 27. Januar 2005 wurde das Mahnmal nach einem Gedenkgottesdienst in der Gertrudenkirche im Beisein von etwa 400 Menschen feierlich eingeweiht.[5]“Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück (AMEOS Klinikums Osnabrück),” Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V., 2023, accessed November 30, 2023. … Continue reading
The memorial
At Gertrudenring 9, in the garden of the AMEOS Hospital Osnabrück, a memorial stands in remembrance of the psychiatric patients who fell victim to the Nazi regime. In April 1941, 248 patients from the facility, then called the “Landes-Heil- und Pflegeanstalt” (State Mental Hospital), were transferred to the Hadamar killing center.[6]Reiter, Raimond. “Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück.” Osnabrücker Mitteillungen 115 (2010), 159–170, 159; “Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück (AMEOS Klinikums Osnabrück),” Deutscher … Continue reading
The memorial consists of two concrete blocks, with their upward-facing sides covered by metal plates. On the left block, viewed from the path, perches a group of recognizably human figures. Eleven of them stand close together, forming a unified body. The twelfth figure stands somewhat apart and alone, an outsider. The metal plate on the right block bears the inscription: “I am marginalized, stigmatized, forcibly sterilized, murdered, and forgotten. In memory of the psychiatric victims of the National Socialist tyranny in Osnabrück.”
Reflection on the murders of mentally and physically impaired individuals by perpetrators, especially doctors and caregivers, of the Nazi regime began relatively late. Initiatives such as the “Arbeitskreis Erforschung der NS ‘Euthanasie’ und Zwangssterilisation” (Study Group for Research on National Socialist ‘Euthanasia’ and Forced Sterilization) or the “Bund der ‘Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten” (Association of Victims of ‘Euthanasia’ and Forced Sterilization) started addressing these crimes only in the 1980s.[7]“Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen,” NS-Euthanasie Anna 1915–1940, 2023, accessed November 30, 2023. https://www.euthanasie-gedenken.de/erinnerung.htm.
The idea for the Osnabrück Memorial for the Psychiatric Victims of National Socialism was developed by a self-help group of “individuals who had experienced psychiatric issues in 1999.[8]“Mahnmal,” Ameos Klinikum Osnabrück, accessed November 30, 2023. https://www.ameos.de/klinikum-osnabrueck/ueber-uns/mahnmal. An expert panel selected the design proposed by Osnabrück artist Werner Kavermann, as it poignantly and authentically captured the fearful and isolating experiences of the mentally ill.[9]Ibid. On January 27, 2005, the memorial was inaugurated following a memorial service at the Gertrudenkirche, attended by around 400 people.[10]“Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück (AMEOS Klinikums Osnabrück),” Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V., 2023, accessed November 30, 2023. … Continue reading
Die Ermordung von Patient:innen der Osnabrücker Landes-Heil- und Pflegeanstalt
Unter dem Decknamen „Aktion T4“ töteten Täter:innen des nationalsozialistischen Regimes etwa 70.000 körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen, die sie als „lebensunwert“ eingestuft hatten. 92 weibliche und 156 männliche Patient:innen der Osnabrücker Landes-Heil- und Pflegeanstalten wurden im April 1941 nach Hadamar deportiert und dort in der Gaskammer ermordet.[13]Reiter, Raimond. “Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück.” Osnabrücker Mitteilungen 115 (2010), 159–170, 159.
Grundlage für diese Verbrechen war der bereits seit der Jahrhundertwende praktizierte, unter dem NS-Regime auf die Spitze getriebene und etwa über das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GVeN) von 1933 verrechtlichten Sozialdarwinismus, der von der Entwicklung einer Gesellschaft durch genetische Auslese und Verhinderung der Weitergabe „schlechter“ Gene ausging.[14]Berger, Eva. Die Würde des Menschen ist unantastbar. 200 Jahre Psychiatriegeschichte im ehemaligen Königreich Hannover am Beispiel des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Osnabrück. Bramsche: … Continue reading Das GVeN umfasste acht erblich bedingte Krankheiten, deren Weitergabe zu verhindern seien; dass darüber hinaus auch schwerer Alkoholismus als Grund für Zwangssterilisationen diente, lässt die „Erblichkeit“ der Erkrankungen wie ein Vorwand erscheinen, den „Volkskörper“ von allem „Schwachen“ und „Minderwertigen“ zu „reinigen“.[15]Weiss, Burghard. “Dr. med. Ewald Otte (1891–1942). Ein Osnabrücker Arzt zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus.” In OM, Bd. 126 (2021), 57–70, 63; Berger, Die Würde des Menschen, … Continue reading Etwa 350.000 Menschen wurden auf Grundlage dieses Gesetzes zwangssterilisiert; einige tausend – 90% von ihnen Frauen – starben infolge der Eingriffe.[16]Weiss, “Dr. med. Ewald Otte,” 63; Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 160. Für die Stadt und den Regierungsbezirk Osnabrück sind für die Jahre 1935 bis Mitte 1937 1.462 „Unfruchtbarmachungen“ nachgewiesen.[17]Berger, Die Würde des Menschen, 249.
Schätzungsweise 5.000 Kinder, darunter 13 aus Osnabrück,[18]Reiter, „Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück“, 161. fielen reichsweit der „Kinder-Euthanasie“ zum Opfer. Kinder mit „schweren angeborenen Leiden“ wurden in „Kinderfachabteilungen“ für medizinische Versuche missbraucht und durch Medikamentenverabreichung oder Vernachlässigung getötet.[19]“Vor 80 Jahren: Beginn der NS-‘Euthanasie’-Programme.” Bundeszentrale für politische Bildung, accessed November 30, 2023. … Continue reading
Nachdem Proteste vor allem von Geistlichen an der ursprünglich geheimen Massentötung von psychisch und körperlich Behinderten laut wurden, stellte das Regime die „Aktion T4“ offiziell ein. Es folgte eine Phase der „Wilden“, „dezentralen“ und schwer nachweisbaren „Euthanasie“, der weitere etwa 200.000 Menschen zum Opfer fielen.[20]Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 161.
The Murder of Patients at the Osnabrück State Mental Hospital
Under the code name “Aktion T4,” adherents of the Nazi regime killed around 70,000 physically or mentally impaired individuals whom they classified as “unworthy of life.” In April 1941, 92 female and 156 male patients from the Osnabrück State Mental Hospital were deported to Hadamar and murdered in the gas chamber there.[21]Reiter, Raimond. “Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück.” Osnabrücker Mitteilungen 115 (2010), 159–170, 159.
The basis for these crimes was the social Darwinism that had been practiced since the turn of the century and that intensified under the Nazi regime, legitimized through the Law for the Prevention of Genetically Diseased Offspring (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, GVeN) in 1933. This ideology assumed that the development of society could be enhanced through genetic selection and the prevention of the transmission of “inferior” genes.[22]Berger, Eva. Die Würde des Menschen ist unantastbar. 200 Jahre Psychiatriegeschichte im ehemaligen Königreich Hannover am Beispiel des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Osnabrück. Bramsche: … Continue reading The GVeN included eight hereditary diseases that the regime deemed it necessary to prevent from being passed on. The fact that severe alcoholism was also seen as a reason for forced sterilizations makes the “heredity” of the diseases seem like a pretext to “cleanse” the “national body” of all that was considered “weak” or “inferior.”[23]Weiss, Burghard. “Dr. med. Ewald Otte (1891–1942). Ein Osnabrücker Arzt zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus.” In OM, Bd. 126 (2021), 57–70, 63; Berger, Die Würde des Menschen, … Continue reading About 350,000 people were forcibly sterilized under this law, with several thousand – 90% of them women – dying as a result of the procedure.[24]Weiss, “Dr. med. Ewald Otte,” 63; Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 160. For the city and administrative district of Osnabrück, 1,462 sterilizations are documented between 1935 and mid-1937.[25]Berger, Die Würde des Menschen, 249.
An estimated 5,000 children nationwide, including 13 from Osnabrück,[26]Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 161. became victims of “child euthanasia.” Children with “severe congenital disorders” were subjected to medical experiments in “child-specialized departments” and killed through medication or neglect.[27]“Vor 80 Jahren: Beginn der NS-‘Euthanasie’-Programme.” Bundeszentrale für politische Bildung, accessed November 30, 2023. … Continue reading
After protests, especially from clergy members, were raised against the initially secret mass killing of mentally and physically disabled individuals, the regime officially halted Aktion T4. However, this was followed by a phase of “wild,” “decentralized,” and difficult-to-detect “euthanasia,” which claimed the lives of around 200,000 more people.[28]Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 161.
Informationen
↑1, ↑6 | Reiter, Raimond. “Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück.” Osnabrücker Mitteillungen 115 (2010), 159–170, 159; “Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück (AMEOS Klinikums Osnabrück),” Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V., 2023, accessed November 30, 2023. https://gedenkort-t4.eu/historische-orte/heil-und-pflegeanstalt-osnabrueck-ameos-klinikums-osnabrueck. |
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↑2, ↑7 | “Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen,” NS-Euthanasie Anna 1915–1940, 2023, accessed November 30, 2023. https://www.euthanasie-gedenken.de/erinnerung.htm. |
↑3, ↑8 | “Mahnmal,” Ameos Klinikum Osnabrück, accessed November 30, 2023. https://www.ameos.de/klinikum-osnabrueck/ueber-uns/mahnmal. |
↑4, ↑9 | Ibid. |
↑5, ↑10 | “Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück (AMEOS Klinikums Osnabrück),” Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V., 2023, accessed November 30, 2023. https://gedenkort-t4.eu/historische-orte/heil-und-pflegeanstalt-osnabrueck-ameos-klinikums-osnabrueck; Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 159. |
↑11, ↑12 | Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 159. |
↑13, ↑21 | Reiter, Raimond. “Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück.” Osnabrücker Mitteilungen 115 (2010), 159–170, 159. |
↑14, ↑22 | Berger, Eva. Die Würde des Menschen ist unantastbar. 200 Jahre Psychiatriegeschichte im ehemaligen Königreich Hannover am Beispiel des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Osnabrück. Bramsche: Rasch Verlag, 1999, 239–240. |
↑15, ↑23 | Weiss, Burghard. “Dr. med. Ewald Otte (1891–1942). Ein Osnabrücker Arzt zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus.” In OM, Bd. 126 (2021), 57–70, 63; Berger, Die Würde des Menschen, 238–239. |
↑16, ↑24 | Weiss, “Dr. med. Ewald Otte,” 63; Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 160. |
↑17, ↑25 | Berger, Die Würde des Menschen, 249. |
↑18 | Reiter, „Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück“, 161. |
↑19, ↑27 | “Vor 80 Jahren: Beginn der NS-‘Euthanasie’-Programme.” Bundeszentrale für politische Bildung, accessed November 30, 2023. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/. |
↑20, ↑26, ↑28 | Reiter, “Opfer der NS-Psychiatrie,” 161. |