Seit dem 8. Februar 2011 erinnert eine Gedenktafel aus Messing an die Menschen, die in der Göttinger Universitätsklinik Opfer von Zwangssterilisation wurden.
Die Tafel befindet sich am ehemaligen Gebäude der chirurgischen Universitätsklinik am Käte-Hamburger-Weg 3, in dem sich heute das Seminar für Deutsche Philologie befindet. Die Tafel wurde 2010 auf Initiative der Studierenden Franziska Frome-Ziegler und Jonathan Kühne angebracht. Diese hatten sich im Rahmen eines Seminars bei Prof. Petra Terhoeven mit der Geschichte der Gebäude der heutigen Philosophischen Fakultät auseinandergesetzt.[1]„Spätes Erinnern an Unrecht.“ In: Hessisch/Niedersächsische Allgemeine, 09.02.2011. URL: https://www.hna.de/lokales/goettingen/spaetes-erinnern-unrecht-1116927.html/. Zuletzt abgerufen am: … Continue reading
Bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik gab es Befürworter:innen von „Rassenhygiene“. Nach diesem sozialdarwinistischen Konzept sollten als „rassisch minderwertig“ eingestufte Personen, welche für die Entwicklung der Gesellschaft vermeintlich schädlich seien, zwangssterilisieren werden.[2]Westermann, Stefanie. Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Menschen und Kulturen, Band 7. Köln: Böhlau, 2010. S. 36, 37, 39 ff. Auf diese Weise sollte das „biologisch minderwertige Erbgut“ ausgeschaltet und die „schwere Entartung aller Kulturvölker“ verhindert werden.[3]Deutscher Bundestag. Drucksache 16/3811: Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.
Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Dieses ermöglichte die Unfruchtbarmachung von sogenannten „Erbkranken“ und ebnete so den Weg zur willkürlichen Zwangssterilisation von Personen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, aber auch von Homosexuellen, Alkoholkranken und allgemein sozial unerwünschten Personen. Ärzte wurden per Gesetz dazu verpflichtet, „erbkranke“ Personen, auch unter Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht, anzuzeigen.[4]Koch, Thomas. „Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen.“ Dissertation, Georg-August-Universität Göttingen, 1994. S. 11.
787 Frauen und mehr als 800 Männer wurden in der Göttinger Universitätsklinik zwangssterilisiert. Der häufigste angeführte Grund war der sogenannte „angeborene“ oder „moralische Schwachsinn“. Dieser wurde in erster Linie über einen Intelligenztest überprüft, der den Fokus auf Urteilsfähigkeit, allgemeines Verständnis und schlussfolgerndes Denken legte. Bei Personen, die „kaum wesentliche Verständnismängel offenbarten“ wurde darüber hinaus ihr soziales Verhalten dahingehend überprüft, ob es „gegen die Rechtsordnung“ oder „die sittlichen Allgemeinvorstellungen“ verstieß. Dadurch fanden die, von den Nationalsozialisten als herrschenden Ordnung eingeführten „akzeptierten Verhaltensstandards“, Einzug in die Diagnostik.[5]Ley, Astrid. Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2004. S. 53 f. Diebstahl und Lügen, aber auch Ungehorsam oder Ablehnung der herrschenden Ordnung konnten dabei Gründe für eine Zwangssterilisation darstellen. Auch Homosexualität oder sexueller Kontakt über Rassengrenzen hinweg fielen in die Kategorie des Verstoßes gegen Verhaltensstandards.[6]Ley, Astrid. Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2004. S. 53 f. „Schizophrenie“ und „Manisch-depressives Irresein“ stellten die zweit- und dritthäufigsten Diagnosen dar. Zentral für die Einschätzung der anzeigenden Ärzte und der sogenannten „Erbgesundheitsgerichte“, welche Legitimität vortäuschten, waren jedoch, dass eine Vererbbarkeit dieser Krankheiten gegeben sei und diese den „Volkskörper“ schwächten.[7]Bock, Gisela. „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.“ In: Quack, Sibylle (Hrsg.): Dimensionen der Verfolgung. Opfer und Opfergruppen im Nationalsozialismus. München: Deutsche … Continue reading
Während die Zwangssterilisation von Frauen gut dokumentiert ist, sind die Aufzeichnungen über zwangssterilisierte Männer nur lückenhaft. Frauen wurde meist der Eileiter durchtrennt oder entfernt, seltener wurden Röntgenstrahlung oder Radiumeinlagen genutzt. Bei Männern wurde eine Kastration durchgeführt. Mindestens drei Personen kamen in Folge der Operationen in Göttingen zu Tode. Ca. 23 % der Patient:innen hatten mit Komplikationen zu kämpfen. Neben den physischen Folgen verursachten die Eingriffe für die Opfer gravierende psychische Schäden.
Nach dem Krieg erfuhren die Opfer von Zwangssterilisationen keine Entschädigungen. Erst mit einem Bundestagsbeschluss im Jahre 2011 wurden die Zwangssterilisierten als Opfer „typisch nationalsozialistischer Verfolgung“ akzeptiert.[8]Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V..: „‚Euthanasie‘-Geschädigte und Zwangssterilisierte“. URL: … Continue reading Um den Makel der „Erbkrankheit“ loszuwerden, mussten die Opfer Wiederaufnahmeverfahren beantragen. Die Bewilligung von Refertilisationsoperation bedeutete lange Wartezeiten und viele bürokratische Hindernisse.
Autor:in: Luca J. Peterek.
Since February 8, 2011, a brass memorial plaque commemorates the persons who were victims of forced sterilization at Göttingen University Hospital. The plaque is located on the former building of the University Surgical Clinic at Käte-Hamburger-Weg 3, which is now home to the Department of German Philology. The plaque was erected in 2010 on the initiative of the students Franziska Frome-Ziegler and Jonathan Kühne. Taking part in a seminar with Prof. Petra Terhoeven, they had studied the history of the buildings of today’s Faculty of Philosophy.[9]„Spätes Erinnern an Unrecht.“ In: Hessisch/Niedersächsische Allgemeine, 09.02.2011. URL: https://www.hna.de/lokales/goettingen/spaetes-erinnern-unrecht-1116927.html/. Zuletzt abgerufen am: … Continue reading
Proponents of „racial hygiene“ already were active in the German Empire and the Weimar Republic. According to this social Darwinist concept, persons classified as „racially inferior“ were considered harmful to the development of society and should be sterilized by force.[10]Westermann, Stefanie. Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Menschen und Kulturen, Band 7. Köln: Böhlau, 2010. S. 36, 37, 39 ff. In this way, „biologically inferior genetic material“ was to be eliminated and the „severe degeneration of all cultural peoples“ was to be prevented.[11]Deutscher Bundestag. Drucksache 16/3811: Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.
On January 1, 1934, the „Law for the Prevention of Hereditarily Diseased Offspring“ came into force. This law made it possible to render so-called „hereditarily ill“ persons infertile, and thus it paved the way for the arbitrary forced sterilization of persons with physical and mental disabilities, as well as homosexuals, alcoholics and socially undesirable persons. In violation of medical ethics, doctors were obliged by law to sterilize „hereditarily ill“ persons.[12]Koch, Thomas. „Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen.“ Dissertation, Georg-August-Universität Göttingen, 1994. S. 11.
787 women and more than 800 men were forcibly sterilized at Göttingen University Hospital. The most common reason given was so-called „congenital“ or „moral imbecility“. This was primarily assessed by using an intelligence test that focused on the abilities of judgment, general understanding and reasoning. In cases of persons who „hardly revealed any significant lack of understanding“, their social behavior was additionally examined to determine whether they „violated the legal order“ or „general moral concepts“. As a result, the „accepted standards of behavior“ introduced by the National Socialists as the prevailing order found their way into diagnostics.[13]Ley, Astrid. Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2004. S. 53 f. Theft and lying, but also disobedience or rejection of the ruling order could be grounds for forced sterilization. Homosexuality or sexual contact across racial boundaries also fell into this category.[14]Ley, Astrid. Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2004. S. 53 f. „Schizophrenia“ and „manic-depressive insanity“ were the second and third most common diagnoses. However, central to the assessment of the reporting doctors and the so-called „hereditary health courts“, which feigned legitimacy, was that these illnesses were hereditary and weakened the „body of the people“.[15]Bock, Gisela. „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.“ In: Quack, Sibylle (Hrsg.): Dimensionen der Verfolgung. Opfer und Opfergruppen im Nationalsozialismus. München: Deutsche … Continue reading
While the forced sterilization of women is well documented, records of forced sterilization of men are incomplete. Women usually had their fallopian tubes cut or removed, while X-rays or radium injections were used less frequently. On men, castration was performed. As a result of these operations in Göttingen, at least three people died. Around 23% of patients had to deal with complications. In addition to the physical consequences, the operations caused serious psychological damage to the victims.
After the war, victims of forced sterilization received no compensation. It was not until a Bundestag resolution in 2011 that the victims of forced sterilization were accepted as victims of „typical National Socialist persecution“.[16]Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V..: „‚Euthanasie‘-Geschädigte und Zwangssterilisierte“. URL: … Continue reading In order to get rid of the stigma of „hereditary disease“, victims had to apply for reinstatement proceedings. The approval for re-fertilization surgery meant long waiting times and many bureaucratic obstacles.
Author: Luca J. Peterekt.
Translations: Irene Schultens.
↑1, ↑9 | „Spätes Erinnern an Unrecht.“ In: Hessisch/Niedersächsische Allgemeine, 09.02.2011. URL: https://www.hna.de/lokales/goettingen/spaetes-erinnern-unrecht-1116927.html/. Zuletzt abgerufen am: 23.10.2023. |
---|---|
↑2, ↑10 | Westermann, Stefanie. Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Menschen und Kulturen, Band 7. Köln: Böhlau, 2010. S. 36, 37, 39 ff. |
↑3, ↑11 | Deutscher Bundestag. Drucksache 16/3811: Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. |
↑4, ↑12 | Koch, Thomas. „Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen.“ Dissertation, Georg-August-Universität Göttingen, 1994. S. 11. |
↑5, ↑6, ↑13, ↑14 | Ley, Astrid. Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2004. S. 53 f. |
↑7, ↑15 | Bock, Gisela. „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.“ In: Quack, Sibylle (Hrsg.): Dimensionen der Verfolgung. Opfer und Opfergruppen im Nationalsozialismus. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2003, S. 284 f. |
↑8, ↑16 | Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V..: „‚Euthanasie‘-Geschädigte und Zwangssterilisierte“. URL: https://www.gegen-vergessen.de/themen/nationalsozialismus/euthanasie-geschaedigte-und-zwangssterilisierte.html/. Zuletzt abgerufen am: 14.11.2023. |