Am Standort der in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 niedergebrannten Osnabrücker Synagoge erinnert ein Denkmal an das von den Nationalsozialisten zerstörte Gotteshaus und an die Entrechtung, Verfolgung, Deportation und Ermordung der Jüd:innen der Stadt.
Das Bedürfnis nach einem Gedenkort an die zerstörte jüdische Gemeinde bestand bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwischen 1949 und 1969 bildeten zwei Text- und eine die Synagoge zeigende Bronzetafeln eine kleine Gedenkanlage. 1978 wurde der östliche Abschnitt der Rolandstraße in die „Alte-Synagogen-Straße“ umbenannt und Bronzetafeln in deutscher und hebräischer Sprache an der Hauswand des Gebäudes der Osnabrücker Bezirksregierung angebracht. Dieser Standort am „Gebäude der Täter“ rief Kritik hervor[1]Berufsbildende Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben. Das Mahnmal ‚Alte Synagoge‘ – Eine Dokumentation – Entstehung und Hintergund. Osnabrück: Staperfeld, 2004, 6. und ab 1988 reiften Pläne für eine „Gedenkstätte Alte Synagoge“, in der die Geschichte der jüdischen Gemeinde dokumentiert und ausgestellt werden sollte. Diese Pläne scheiterten am abschlägigen Bescheid der Landesregierung. 2004 entstand auf Initiative der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit das Mahnmal „Alte Synagoge“, das am 9. November – 66 Jahre nach der Reichspogromnacht – eingeweiht wurde.[2]Schulze, Heiko, and Kalla Wefel. „Das Mahnmal ‚Alte Synagoge‘ (mit Podcast).“ Osnabrücker Rundschau, June 18, 2023, accessed August 10, 2023. … Continue reading
Das von Richard-Wilhelm Bitter entworfene und von 200 Schüler:innen der Berufsbildenden Schulen der Stadt und des Landkreises Osnabrück umgesetzte Denkmal besteht aus vier Elementen. Ein gebrochener Davidstern steht im Zentrum des Gebildes und symbolisiert einerseits das gebrochene jüdische Leben, andererseits aber auch das gebrochene Verhältnis zwischen Jüd:innen und Deutschen. Vier Bronzetafeln mit Texten von Peter Junk erzählen die Leidensgeschichte der Osnabrücker Jüd:innen in vier Abschnitten: Entrechtung, Verfolgung, Deportation und Ermordung. Sie hängen am aus Stahldraht gefertigten Corpus des Denkmals. Dieser Drahtkäfig ist mit Osnabrücker Kalkstein gefüllt, dem Baumaterial, aus dem die 1938 zerstörte Synagoge bestanden hatte. Ein aus 162 Stahlstreben bestehender Zaun flankiert das Denkmal und erinnert an 162 im Rahmen der Shoah ermordete Jüd:innen aus der Stadt.[3]Schulze and Wefel, „Das Mahnmal“; „Mahnmal Alte Synagoge.“ Osnabrück Die Friedensstadt, 2023, accessed August 10, 2023. … Continue reading
On the site of the Osnabrück Synagogue, which was burned down on the night of November 9, 1938, during the Kristallnacht, a memorial commemorates the destroyed house of worship and the disenfranchisement, persecution, deportation, and murder of members of the city’s Jewish community.
The need for a memorial to the destroyed Jewish community was already recognized in the immediate postwar period. Between 1949 and 1969, three bronze plaques, two with text and one depicting the synagogue formed a small memorial site. In 1978, the eastern section of Rolandstraße was renamed “Alte-Synagogen-Straße” (Old Synagogue Street), and bronze plaques with text in German and Hebrew were affixed to the wall of the a Osnabrück district government building. This location, attached to the “building of the perpetrators,” drew criticism,[4]Berufsbildende Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben. Das Mahnmal ‘Alte Synagoge’ – Eine Dokumentation – Entstehung und Hintergrund. Osnabrück: Staperfeld, 2004, 6. and plans emerged in 1988 for an “Old Synagogue Memorial” that would document and exhibit the history of the Jewish community. However, these plans were rejected by the state government. In 2004, on the initiative of the Society for Christian–Jewish Cooperation, the current “Old Synagogue Memorial” was established and inaugurated on November 9, 66 years after the Kristallnacht.[5]Schulze, Heiko, and Kalla Wefel. „Das Mahnmal ‚Alte Synagoge‘ (mit Podcast).“ Osnabrücker Rundschau, June 18, 2023, accessed August 10, 2023. … Continue reading
Designed by Richard-Wilhelm Bitter and created by 200 students from the vocational schools of the city and district of Osnabrück, the memorial consists of four elements. A broken Star of David stands at the center, symbolizing both the shattering of Jewish life and the fractured relationship between Jews and other Germans. Four bronze plaques with texts by Peter Junk narrate the suffering of Osnabrück’s Jews in four sections: Disenfranchisement, Persecution, Deportation, and Murder. The plaques hang on the steel wire structure of the memorial. This wire cage is filled with Osnabrück limestone, the material from which the synagogue destroyed in 1938 was constructed. A fence made up of 162 steel bars flanks the memorial, remembering the 162 Jews from the city who were murdered during the Holocaust.[6]Schulze and Wefel, „Das Mahnmal“; „Mahnmal Alte Synagoge.“ Osnabrück Die Friedensstadt, 2023, accessed August 10, 2023. … Continue reading
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 übten SA- und NSDAP-Mitglieder in Osnabrück wie im gesamten Deutschen Reich massive Gewalt gegen Jüdinnen und Juden sowie ihren Besitz und ihre Gotteshäuser aus; angeblich aus Vergeltung für das Attentat des aus Hannover stammenden Juden Herschel Grynspan an einem deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris.[9]Sellmeyer, Martina. „‘Man hat immer Angst gehabt…‘ Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ In Topographie des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, edited by Thorsten Heese, … Continue reading
Viele Osnabrücker Bürger:innen sahen zu, wie die Wohnungen und Geschäfte ihrer jüdischen Nachbar:innen verwüstet und geplündert, die Bewohner:innen misshandelt und verschleppt sowie die 1906 errichtete und nicht nur als Gebets- sondern auch als Schul- und Wohnhaus dienende Synagoge in der damaligen Rolandstraße in Brand gesteckt wurde. Einige beteiligten sich durch Beleidigungen oder auch in aktiverer Weise an den psychischen und physischen Misshandlungen ihrer jüdischen Mitmenschen.[10]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271-272; Kühling, Karl. Die Juden in Osnabrück. Osnabrück: Wenner, 1983, 89.
Auch die Polizei und die Feuerwehr griffen nicht zugunsten der bedrängten Jüdinnen und Juden in das Geschehen ein. Letztere hatte lediglich dafür zu sorgen, dass das im neben der Synagoge gelegenen Regierungsgebäude befindliche Aktenmaterial durch die Hitze nicht ebenfalls in Brand geriet.[11]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271. An den darauffolgenden Tagen besuchten schaulustige Schulklassen die verbrannten Ruinen und schändeten die übriggebliebenen Glaubenssymbole. Auf Anordnung des Osnabrücker Oberbürgermeisters Erich Gärtner wurden die Überreste der Synagoge „aus baupolizeilichen Gründen“ gesprengt und das Gelände zwangsversteigert und zur Erweiterung der Gestapo-Räumlichkeiten verwendet.[12]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Gander, Michael. „Günstige Geschäfte. Interessen am Osnabrücker Synagogen-Grundstück – Gestapo, Oberbürgermeister und … Continue reading
Schlägertruppen der SA trieben 90 jüdische Männer, viele nur in Schlafanzug oder Unterwäsche bekleidet, an der brennenden Synagoge vorbei zum Osnabrücker Schloss. Einen alten Mann warfen sie in den eiskalten Fluss Hase.[13]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271-272. Nach zwei Tagen im Gewahrsam der Gestapo wurden die Männer ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert.[14]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Kühling, Die Juden, 89. Drei von ihnen überlebten die ihnen im KZ zugefügten Misshandlungen nicht. Noch in Buchenwald wurden die Osnabrücker Juden gezwungen, Kaufverträge für ihre geplünderten und zerstörten Geschäfte und Wohnungen zu unterzeichnen. Der Erlös für ihr Hab und Gut – sofern sie einen solchen überhaupt erhielten – war zu gering, um damit die Flucht ins Ausland zu finanzieren.[15]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Kühling, Die Juden, 89.
On the night of November 9–10, 1938, Sturmabteilung (SA, Storm Division) and Nazi Party (NSDAP) members in Osnabrück, along with their counterparts throughout the German Reich, carried out massive violence against Jewish people and their property, as well as their places of worship. This was allegedly in retaliation for the assassination of a German embassy official in Paris by Herschel Grynszpan, a Jew from Hannover.[16]Sellmeyer, Martina. „‘Man hat immer Angst gehabt…‘ Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ In Topographie des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, edited by Thorsten Heese, … Continue reading
Many citizens of Osnabrück witnessed the destruction and looting of the homes and businesses of their Jewish neighbors. Those neighbors themselves were abused and abducted, and the synagogue, built in 1906 and serving at the time not only as a place of worship but also as a school and residence, was set on fire. Some non-Jewish locals actively participated in the psychological and physical abuse of their Jewish fellow citizens, either through insults or more directly.[17]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271-272; Kühling, Karl. Die Juden in Osnabrück. Osnabrück: Wenner, 1983, 89.
Even the police and fire department did not intervene in favor of the beleaguered Jews. The police only ensured that the documents in the government building beside the synagogue did not catch fire.[18]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271. In the days that followed, curious school classes visited the burned ruins and desecrated the remaining symbols of faith. On the orders of Osnabrück’s mayor, Erich Gärtner, the remains of the synagogue were demolished “for building code reasons,” and the land was forcibly auctioned off and used to expand the local Gestapo facilities.[19]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Gander, Michael. „Günstige Geschäfte. Interessen am Osnabrücker Synagogen-Grundstück – Gestapo, Oberbürgermeister und … Continue reading
SA thugs herded 90 Jewish men, many wearing only pajamas or underwear, past the burning synagogue to Osnabrück Castle. One elderly man was thrown into the ice-cold Hase River.[20]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271-272. After two days in Gestapo custody, the men were deported to the Buchenwald concentration camp.[21]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Kühling, Die Juden, 89. Three of them did not survive the abuse inflicted on them there. In Buchenwald, Osnabrück’s Jews were forced to sign purchase agreements for their looted and destroyed businesses and homes. The proceeds from their property, if they received any at all, were insufficient to finance their escape abroad.[22]Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Kühling, Die Juden, 89.
Informationen
https://www.osnabruecker-land.de/erlebnisse/mahnmal-alte-synagoge
Buch: Das Mahnmal „Alte Synagoge“ :
eine Dokumentation ; Entstehung und Hintergründe / [Hrsg.: Berufsbildende Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben. Red. und Layout: Gertrud Remark …]
↑1 | Berufsbildende Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben. Das Mahnmal ‚Alte Synagoge‘ – Eine Dokumentation – Entstehung und Hintergund. Osnabrück: Staperfeld, 2004, 6. |
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↑2, ↑5 | Schulze, Heiko, and Kalla Wefel. „Das Mahnmal ‚Alte Synagoge‘ (mit Podcast).“ Osnabrücker Rundschau, June 18, 2023, accessed August 10, 2023. https://os-rundschau.de/os-und-umzu/westfaelischer-friede/or-serie-zum-375-jubilaeum/das-mahnmal-alte-synagoge-mit-podcast/ (10.08.2023). |
↑3, ↑6 | Schulze and Wefel, „Das Mahnmal“; „Mahnmal Alte Synagoge.“ Osnabrück Die Friedensstadt, 2023, accessed August 10, 2023. https://erleben.osnabrueck.de/de/stadt-erleben/sehenswertes/mahnmal-alte-synagoge/ (10.08.2023). |
↑4 | Berufsbildende Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben. Das Mahnmal ‘Alte Synagoge’ – Eine Dokumentation – Entstehung und Hintergrund. Osnabrück: Staperfeld, 2004, 6. |
↑7, ↑8 | Sellmeyer, “‘Man hat immer Angst gehabt,’” 271. |
↑9, ↑16 | Sellmeyer, Martina. „‘Man hat immer Angst gehabt…‘ Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ In Topographie des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, edited by Thorsten Heese, 266-277. Bramsche: Rasch Verlag, 2015, 271. |
↑10, ↑17 | Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271-272; Kühling, Karl. Die Juden in Osnabrück. Osnabrück: Wenner, 1983, 89. |
↑11, ↑18 | Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271. |
↑12, ↑19 | Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Gander, Michael. „Günstige Geschäfte. Interessen am Osnabrücker Synagogen-Grundstück – Gestapo, Oberbürgermeister und Regierungspräsident. In Topographie des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, edited by Thorsten Heese, 278-287. Bramsche: Rasch Verlag, 2015, 281. |
↑13, ↑20 | Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 271-272. |
↑14, ↑15, ↑21, ↑22 | Sellmeyer, „‘Man hat immer Angst gehabt‘“, 272; Kühling, Die Juden, 89. |