In Stein Gemeißelt

Set in Stone
Высечаны ў камені
Izcirsts akmenī

Erinnerungsorte in Minsk 

Deutsche Besatzungspolitik in Minsk 1941-1944 

Die größte Stadt während der Offensive der Heeresgruppe Mitte auf Moskau war Minsk. Schon einige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Minsk, Ende Juni bis Anfang Juli 1941, wurde ein provisorisches Lager in Drasdy, fünf Kilometer nordwestlich von der Stadt, errichtet. In diesem Lager befanden sich zeitweise ca. 100.000 Kriegsgefangene und 40.000 Zivilisten. Ca. 10.000 Vertreter der Intelligenz, meistens Juden, wurden durch die Einsatzgruppe B nicht weit vom Lager erschossen. Im Juli 1941 entstanden in und um Minsk weitere Haftstätten für die zentralen Opfergruppen der Anfangsphase des deutschen Vernichtungskriegs, nämlich das Minsker Ghetto für Jüdinnen und Juden, in welchem bis zu 80.000 Menschen  
auf zwei Quadratkilometern zusammengepfercht wurden, und das Stammlager (Stalag) 352 für sowjetische Kriegsgefangene im Vorort Masjukouschtschyna. Orte der Massenmorde an Juden aus dem Minsker Ghetto im Jahre 1941 waren unter anderem der Vorort Tutschynka; Kriegsgefangene, die an Hunger und Kälte starben, wurden im Dorf Hlinischtscha in der Nähe von Stalag 352 verscharrt. 

Das Minsker Ghetto wurde auch zur Haftstätte Juden aus deutschen Städten, aus Wien und dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Etwa 7.000 aus Mitteleuropa deportierte Juden kamen im November 1941 nach Minsk und wurden ins extra für sie eingerichtete so genannte Sonderghetto auf dem Gelände des Minsker Ghettos eingewiesen. Um Platz für sie zu schaffen, erschossen Einheiten der Sipo (Sicherheitspolizei) und der Hilfspolizei, unterstützt von Angehörigen der Schutzpolizei und der Gendarmerie, zwischen dem 7. und 11. November 6.624 und am 20. November noch etwa 5.000 Menschen, darunter Frauen, Kinder und Greise in Tutschynka. 

Nach der Wannsee-Konferenz kam Minsk für das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) weiterhin als ein Ort für künftige Deportationen mitteleuropäischer Juden in Frage. Alle in der Zeit vom Mai bis Oktober 1942 nach Minsk deportierten Juden, insgesamt 16 Transporte, wurden gleich am Tag ihrer Ankunft zum Erschießungsort, im Waldstück Blahauschtschyna (im NS-Jargon als „Umsiedlungsgelände“ bezeichnet) gebracht. Mit dem Ausbau der Zentren des industriellen Mordes u. a. in Treblinka bzw. im Oktober 1942 wird Maly Traszjanez als Zielort für Deportationen und Ermordung mitteleuropäischer Juden aufgegeben. Die Lichtung im Wald von Blahauschtschyna, etwa 13 Kilometer von Minsk entfernt, wird auch zum zentralen Erschießungsort für die noch lebenden Juden des Minsker Ghettos sowie für Insassen der Gefängnisse und zivile Geiseln. Der Massenmord wurde von den Angehörigen der Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei (KdS) organisiert. Im Falle von Massenhinrichtungen kamen die Gaswagen zum Einsatz. Die Nutzung von Blahauschtschyna als Erschießungsstätte wurde praktisch zeitgleich mit der Auflösung des Minsker Ghettos im Oktober 1943 eingestellt. 

Ende April bis Anfang Mai 1942, etwa zur gleichen Zeit, als die Deportationen wiederaufgenommen wurden, gründete die Dienststelle des KdS Minsk auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Marx-Kolchose etwa drei Kilometer vom Waldstück Blahauschtschyna entfernt einen Agrarbetrieb mit Ackerbau und Viehhaltung, um sich mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu versorgen. Dafür wurden Zwangsarbeiter vor allem unter den deportierten mitteleuropäischen Juden rekrutiert. Mit der Zeit entstanden auf dem SD-Gut Elemente der Infrastruktur eines Zwangsarbeitslagers wie Werkstätten, Baracken und Stacheldrahtzäune. Die Anzahl der Lagerinsassen schwankte von paar hundert bis 900, meistens waren es jüdische Facharbeiter wie Schlosser, Tischler, Schmied etc. Kranke wurden bei regelmäßigen Inspektionen ausselektiert und durch neue Arbeiter ersetzt. Die Lagerinfrastruktur und die Zwangsarbeiter wurden für die Lagerung und Sortierung der persönlichen Gegenstände der Ermordeten genutzt. Schließlich wurde zwischen Ende Oktober und Mitte Dezember 1943 das Sonderkommando 1005-Mitte im Lager Maly Traszjanez stationiert. Unter Einsatz der Gefangenen aus den Minsker Haftanstalten öffnete das Kommando die Massengräber in Blahauschtschyna, die verwesenden Leichen wurden mit Eisenhaken herausgehoben, gestapelt und verbrannt. Zum Schluss der so genannten Enterdungsaktion wurden alle eingesetzten Zwangsarbeiter ermordet.

In der unmittelbaren Nähe des Lagers lag das Waldstück Schaschkouka. Dort wurde Ende 1943 eine primitive Leichenverbrennungsanlage als Ersatz für den Erschießungsort in Blahauschtschyna errichtet. Unter Mitwirkung von Kollaborateuren ermordete dort bis Ende Juni 1944 das Personal der Dienststelle des KdS Minsk Tausende, womöglich gar Zehntausende Insassinnen und Insassen der Minsker Gefängnisse, darunter Untergrundkämpfer, Partisanen- und Widerstandsverdächtige oder einfach erkrankte Häftlinge. Ihre Leichen wurden anschließend gleich vor Ort verbrannt. Der ganze Traszjanez-Komplex wurde durch den Kommandeur der KdS-Dienststelle Minsk betrieben, welcher dem RSHA in Berlin unterstand. 

Schließlich wurden am 29. und 30. Juni 1944, nur wenige Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee, über 100 verbliebene Häftlinge des Arbeitslagers sowie einige Tausende Insassinnen und Insassen der Minsker Gefängnisse in der Scheune auf dem Gelände des Arbeitslagers erschossen und darin verbrannt. Zuletzt vernichtete man die Bauten des Lagers und seine Unterlagen. 

 

Sowjetische Erinnerungskultur in Minsk 

Der Zweite Weltkrieg stellt das einschneidende historische Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Belarussen dar. Von allen europäischen Ländern erleidet Belarus die schwersten Kriegsschäden und hat – mit mehr als einem Viertel der Bevölkerung – die meisten Opfer zu beklagen. Die Leidenserfahrungen ließen den Wunsch, dass unter allen Umständen ein Krieg vermieden werde, zum zentralen Bestandteil der belarussischen Mentalität werden, der alle anderen Vorstellungen dominierte. 

Die ruinierte Volkswirtschaft und der Finanzierungsmangel in der Nachkriegszeit erschwerten die Errichtung von Gedenkstätten erheblich. Eine Aktivierung von Gedenkpraktiken setzte nach Stalins Tod während der so genannten Tauwetterperiode unter Chruschtschow ein (Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre). Wichtige Impulse waren zudem die Jahrestage der Befreiung von Belarus und des Sieges über das NS-Deutschland in den Jahren 1964 bzw. 1965. So ordnete die sowjetische Staatsführung im Vorfeld des 20. Tages des Sieges an, alle bis dahin nicht gekennzeichneten Grabstätten von Kriegs- und Besatzungsopfern zu erfassen, die sterblichen Überreste gegebenenfalls umzubetten und Denkmäler zu errichten. Gerade damals entstanden Gedenkorte an zahlreichen Stätten der Massenmorde in Belarus, unter anderem Denkmäler für die Holocaust-Opfer, die in den Inschriften allerdings meist verschleiernd als „friedliche Sowjetbürger“ bezeichnet wurden. Der sowjetische Gedenkkanon bildete sich unter Breschnew endgültig heraus. Seine zentralen Elemente sind groß angelegte Gedenklandschaften und Museen, ein Kult der Kriegshelden sowie standardisierte Denkmäler für zivile Opfer. Beispiele dieser Erinnerungskultur sind in Belarus bis heute zahlreich vorhanden. Die zentralen Orte für Gedenkveranstaltungen mit Bezug zum Großen Vaterländischen Krieg wurden Ploschtscha Peramohi (Platz des Sieges) in Minsk und das Ehrenmal Kurhan Slavy (Ruhmeshügel) in der Nähe der belarussischen Hauptstadt. An diesen Orten wurden vor allem der gefallenen Soldaten gedacht und ihr Heroismus gewürdigt. Die Gedenkstätte Chatyn ihrerseits, welche 1969 etwa 60 km von Minsk entfernt eröffnet wurde, ist zu einem zentralen Ort der Erinnerung an die belarussischen Zivilistinnen und Zivilisten geworden, die im Rahmen verschiedener Strafaktionen ermordet worden waren. 

 

Postsozialistische Erinnerungskultur  

Die Herausbildung einer postsozialistischen Erinnerungskultur in Belarus begann schon in der Perestrojka-Zeit (Ende der 1980er-Jahre) und setzte sich in der bedingt „demokratischen“ Periode von 1991 bis 1994 fort. Es begann eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.  

Ein prägendes Ereignis waren im Jahr 1988 die Ausgrabungen im Kurapaty-Wald am Stadtrand von Minsk. Dabei wurden Hunderte von Erschießungsgräben freigelegt und die sterblichen Überreste Tausender Opfer aus der Stalinzeit entdeckt. An dieser Stätte der Massenmorde aus den Jahren 1937 bis 1941 entstand später eine zivile Gedenkstätte, der so genannte Kreuzwald.  

Bis Ende der 1980er-Jahre gab es keine systematischen Aktivitäten zum Gedenken an die belarussischen Opfer des Holocaust. Sie begannen erst mit dem Wiederentstehen jüdischer Gemeinden und intensivierten sich insbesondere nach der Gründung des Verbandes der jüdischen Organisationen und Gemeinden in Belarus im Jahr 1991. Gleichzeitig kamen immer mehr Angehörige der ermordeten Jüdinnen und Juden, die zu verschiedenen Zeiten aus der Sowjetunion nach Israel, in die USA etc. ausgewandert waren, nach Belarus zu Besuch. Diese Prozesse förderten private Initiativen zur Errichtung von Denkmälern an Holocaust-Erinnerungsorten mit ausländischer finanzieller Unterstützung. 

Eine besondere Rolle bei der Entstehung der postsowjetischen Holocaust-Gedenklandschaft spielte der prominente belarussische Architekt Leonid Lewin, der seit der Gründung des Verbandes der jüdischen Organisationen und Gemeinden 1991 und bis zu seinem Tod 2014 auch dessen Vorsitzender war. Im Jahr 2000 schuf Leonid Lewin in Zusammenarbeit mit der israelischen Bildhauerin Elsa Pollak und dem belarussischen Bildhauer Aljaksandr Finski die Skulpturengruppe „Die in den Tod Gehenden“, die den Obelisken für die im Minsker Ghetto ermordeten Jüdinnen und Juden in der Gedenkstätte „Jama“ ergänzt. Neben der Komposition „Die in den Tod Gehenden“ wurde die Allee der Gerechten unter den Völkern der Welt angelegt. Hier werden Bäume zu Ehren belarussischer Bürger*innen gepflanzt, die Jüdinnen und Juden vor der nationalsozialistischen Verfolgung gerettet haben. Leonid Lewin war auch an der Gestaltung weiterer jüdischer Gedenkorte in Minsk beteiligt: Anlässlich des 65. Jahrestages der Vernichtung des Minsker Ghettos wurde 2008 auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof, auf dem ungefähr 5.000 Jüdinnen und Juden ermordet worden waren, das Denkmal „Tisch und Stuhl“ (auch „Zerbrochenes Heim“ genannt) errichtet und ein weiteres Denkmal entstand in der Nähe des Ortes, an dem am 7., 11. und 20. November 1941 im damaligen Minsker Vorort Tutschynka (heute Minsk) eine der größten Massenerschießungen von Jüdinnen und Juden stattgefunden hatte. Bereits nach Lewins Tod setzte seine Tochter Galina Lewina 2017–2018 nach seinen Entwürfen das Projekt „Der letzte Weg“ um. Dieser Gedenkkomplex befindet sich in unmittelbarer Nähe der Erschießungsstätte im Blahauschtschyna-Wald und ist Teil der Gedenkanlage für die Opfer der Massenmorde in Maly Traszjanez. 

Das erste Minsker Gedenkzeichen für die deportierten mitteleuropäischen Jüdinnen und Juden, nämlich für die jüdischen Bremer*innen, entstand 1992. Später wurden Gedenksteine für die deportierten jüdischen Bürger*innen aus Hamburg, Düsseldorf, Köln, Bonn, Wien, Berlin, Frankfurt am Main, Königberg (heute Kaliningrad in Russland), Theresienstadt und Brünn (tschechisch Terezín bzw. Brno) errichtet. Bemerkenswert sind die Aktivitäten der österreichischen Bürgerinitiative IM-MER (Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern), die seit 2010 bis zur Covid-19-Pandemie auf ihrer jährlichen Gedenkreise im Mai gelbe Schilder mit den Namen der ermordeten jüdischen Österreicher*innen an den Bäumen in Blahauschtschyna anbrachte und so in unmittelbarer Nähe zur Erschießungsstätte einen „Wald der Namen“ entstehen ließ. Am 28. März 2019 wurde schließlich das Denkmal „Massiv der Namen“ für die ungefähr 10.000 in Maly Traszjanez ermordeten jüdischen Österreicher*innen eingeweiht. 

An den jüdischen Widerstand erinnern in Minsk wenige Gedenkzeichen: 2005 wurde eine Gedenktafel für Mikhail Gebelev in der heute nach ihm benannten Straße angebracht; seit 2008 wurde der Name von Mascha Bruskina auf dem Gedenkstein unweit der Minsker Hefefabrik ergänzt.

Das wachsende öffentliche Interesse für den Holocaust in Belarus hat viel mit der Gründung des Museums für Geschichte und Kultur der Juden in Belarus im Jahr 2002 und der Geschichtswerkstatt Minsk im Jahr 2003 zu tun. Die Mitarbeiter*innen dieser Institutionen trugen und tragen aktiv dazu bei, Erinnerungen von Überlebenden und Zeitzeug*innen zu sammeln und zu veröffentlichen, Informationen über die Erschießungsstätten zu erfassen und zu vermitteln, und fördern insgesamt ein würdiges Gedenken im Kontext der europäischen Erinnerungskultur. Hervorzuheben ist aber, dass die Erinnerung an den Holocaust in Belarus nach wie vor nicht vom Staat, sondern von der Zivilgesellschaft getragen wird. 

 

Resowjetisierung der Erinnerungskultur

Während der Herrschaft von Aliaksandr Lukaschenka (1994 bis heute) wurde eine Resowjetisierung der Erinnerungskultur unter Verwendung des sowjetischen Narrativs der Geschichte vollzogen. Das Fundament für das Lukaschenka-Regime bildete das Andenken an den „Großen Vaterländischen Krieg“, dessen Kanon sich in der spätsowjetischen Zeit gebildet hatte. Das offizielle Gedenken an den Zweiten Weltkrieg ist in Belarus weiterhin sowjetischen Traditionen verpflichtet.

von Aliaksandr Dalhouski